Liebe Leser!
Menschen und Medien – Zeitschrift für Kultur- und Kommunikationspsychologie hat sich inzwischen als feste Medien-Fachzeitschrift eine besondere Stellung verschaffen können, wenn wir die Masse und Qualität der Zuschriften, Bitten, Ideen und Anfragen jeglicher Art und unterschiedlichster Institutionen auswerten. Das Gewand hat sich ein wenig verändert durch Wechsel des Webmasters. Der Newsflash, der uns zwar viele Klicks lieferte, durch im Internet häufig gesuchte populäre Begriffe, nimmt keinen eigenen Raum hier mehr ein. Stattdessen sollen in den Rubriken "Glosse", "Menschen in den Medien" und "Zur Persönlichkeit" neuere persönliche Medienbetrachtungen publiziert werden.
So konzentrieren wir uns auf die medientheoretische Analyse im pädagogischen, psychologischen und kommunikationswissenschaftlichen Bereich und schreiben in unreformiertem Deutsch.
Der langjährige Verbandspräsident des Psychologenverbandes VFP (Verband Freier Psychotherapeuten und Psychologischer Berater e.V., in welchem wir Mitglied sind), Prof. Dr. Hans-Ulrich Ahlborn, wünscht eine..., was wir uns auch zueigen machen wollen: „GEBORGENHEIT in der Unübersichtlichkeit derzeitigen Seins“. Und gerade in der Medienpsychologie und Medienpädagogik möge uns das gelingen, in der zunehmend unübersichtlich werdenden Informationsgesellschaft.
Ramin Rowghani
- Chefredakteur -
Von Ramin Rowghani
Zur Hypothese der wachsenden Wissenskluft und das Internet-Nutzer-Verhalten
Bestimmte medientheoretische Gebilde sind für Medienpsychologen und Medienpädagogen, also für einen bedeutenden Teil unseres Leserkreises von immanenter Bedeutung. Die einmal im Studium erlernten und angeschnittenen Theorien verfliegen, wenn sie nicht wieder in Erinnerung gerufen werden und vor allem in einen neuen, also aktuellen Zusammenhang gestellt werden. Eine dieser Theorien ist die „Hypothese der wachsenden Wissenskluft“, die Prof. Saxer 1978 aufgestellt hat und zu jener Zeit für Wirbel gesorgt hatte und noch heute als Grundlage angehenden Publizisten- und Kommunkiationswissenschaftlern gelehrt wird.
Theorien, die nur im Zeitzusammenhang stehen, verlieren mit fortschreitender Zeit ihre Gültigkeit. Andere, die ähnlich Naturgesetzen, zeit- und quasi gesellschaftsunabhängig sind, gewinnen sogar an Bedeutung durch die Einflüsse neuer Impulse, die der Zeitgeist und die Weiterentwicklung mit sich bringen.
Als Meilenstein der Medienforschung kann Saxers „WISSENSKLUFTTHEORIE“ angesehen werden, schon der kernige Name dieser Theorie läßt auf den Inhalt ziemlich deutlich schließen. Was bei vielen Medientheoretikern oft unklar und verklausuliert vorgestellt wird, zeigt sich beim Züricher Publizistik-Professor Ulrich Saxer eindeutig und ohne Pathos. Seine Theorie entspricht vieler unbewußter Wahrnehmungen, ohne daß sie verbalisiert wurden. Warum ist „Wissen“ innerhalb der Gesellschaft ungleich verteilt und welche Rolle spielen die Medien in diesen Prozessen? Sie gelten ja als die „Gleichmacher“ und es wird von ihnen erwartet, Individuen verschiedener Stände in die Gesellschaft zu integrieren. Den rein psychologisch-pädagogischen Aspekt (Kindheit/Sozialisation) lassen wir hier in dem medientheoretischen Kontext außer acht, obwohl er einen enormen Einfluß hat.
Saxer geht davon aus, daß spezialisierte Medienangebote, die für die soziale Kompetenz von Bedeutung sind, stärker und tiefer von gesellschaftlich privilegierten Bevölkerungskategorien nutzbar gemacht werden als von anderen Schichten. Mehr Medienangebote heißt also nicht „Mehr Wissen für alle, die es konsumieren“!
Vielmehr eigenen sich Bevölkerungsschichten mit höherem sozio-ökonomischem Status und entsprechend höherer Bildung zusätzliche Wissensangebote rascher und tiefgehender an. Das Resultat ist, daß die geistige Oberschicht schneller mehr weiß als die geistige Unterschicht, die sich wegen der Fülle der Medieninformationen immer weniger wesentliches aneignet. Somit nimmt die WISSENSKLUFT zwischen beiden Bevölkerungsschichten zu statt ab (vgl. Axel Zerdick). Dies gilt besonders bei den Printmedien, da dort LESEKOMPETENZ vorausgesetzt wird, die oft nicht ausreichend vorhanden ist, weil sie z.B. in der Schule nicht ausreichend gelehrt wurde, bzw. der ehemalige Schüler aufgrund von psychischen Blockaden (Spannungen im Elternhaus etc.) sie damals nicht erwerben konnte.
Saxer selbst erweiterte seine Theorie zur „Kommunikationseffekte-Kluft-Hypothese“, bei der erforscht wurde, daß Medienkompetenz nur dann gesteigert werden kann, wenn eine entsprechende Motivation dafür besteht bzw. geweckt werden kann.
Junge Leute, die wenig gelesen haben, sondern sich eher dem Visuellen hingaben, die auch als „Nur-Seher“ (vgl. Bonfadelli & Saxer 1986) kategorisiert werden, bauen sich eine Argumentation gegen das Lesen auf, das vom Zeitmangel bis zum hohen Buchpreis die Palette abdeckt. Ihnen eine Lesekompetenz zu vermitteln ist nicht einfach, weil die Phase, in welcher man jene entwickelt, die Schulzeit im wesentlichen ist. Darum muß dem Individuum verdeutlicht werden, was seine beruflichen und gesellschaftlichen Ziele sein können und werden und daß sie im wesentlichen von der eigenen Anstrengung abhängen. Dosierte Fernseh und aktuell Internet- kompetenz kann sogar die Lesekompetenz unterstützen.
Auch hier ergibt Dosis und Qualität den Verfall oder die Optimierung von Wissen. Wenn durch das einst populäre „Literarische Quartett“ (heute bei Youtube gern gesehen) oder beim auch inzwischen eingestellten "Bilderstreit" mit Bazon Brock oder politischen Diskussionsrunden mit markigen Teilnehmern beim Fernsehrezipienten Freude am Thema geweckt wird und daraus der Griff zum Printmedium resultiert, mit dem dann sinnvoll umgegangen wird, dann hätte auch das Fernsehen seinen Sinn und Erfolg. Nur liegt die Gefahr beim Fernsehen im „Vielsehen“ und „Wahllos-Sehen“, wodurch automatisch jegliche differenzierte Wissensrezeption behindert wird und wir wieder bei Saxers Wissensklufttheorie angekommen sind.
Das Lernen durch Vielsehen führt zur Entdifferenzierung der Perzeption, hingegen das Viellesen gezielter Inhalte führt zum Strukturwissen, was bedeutet, daß das eigenständige Erkennen von Hintergründen und Beziehungen gefördert wird. Die Erweiterung der Theorie der wachsenden Wissenskluft auf neue Medien der Jahrtausendschwelle birgt interessante Aspekte in sich, die noch ein größeres Forschungsfeld bieten. Die neue Informationstechnologie hat Auswirkungen auf viele Lebensbereiche, vom Arbeitsplatz bis zum Privatleben, wobei sowohl der Wissenserwerb als auch die Art der Kommunikation von Bedeutung sind, und beide Disziplinen sich mit den neuen Medien, insbesondere dem Internet verbinden.
An der FU-Berlin untersuchte der Mediensoziologe Prof. Lutz Erbring (2000) vom Institut für Publizistik die Internetnutzung, dabei fand er heraus, daß die Internetzugangsrate in den USA deutlich höher ist als in Deutschland. Selbst bald 20 Jahre danach ist es immer noch so, obwohl Deutschland kräftig angezogen hat.
Das neue Medium: Internet
Dieses neue Medium erweist sich in Amerika als „Massenphänomen“, u.a. weil man praktisch dieses Medium ohne finanziellen Aufwand unbegrenzt nutzen kann. Erbring bestätigt auch hier, daß die Wissensklufttheorie ihre Berechtigung hat, obwohl sie außerhalb des Internetzeitaltes entwickelt wurde, sie macht also auch vor den modernen Kommunikationsmitteln keinen Halt. Das Internet zur Recherche werde in Deutschland sehr viel häufiger von Personen mit höheren Bildungsabschlüssen und Einkommenskategorien genutzt. Die häufige Internetnutzung ( wie auch die Nutzung der älteren Medien ) führt zu Veränderungen im Bereich der Lebensweise im weitesten Sinn.
Die Gefahren von Isolierung sind unübersehbar, also dem Ersetzen des realen Kommunikationspartners durch das Medium (Internet/ E-Mai Communities wie Facebook oder andere Chatforen), ebenso werden vermehrt Schlafmangel und Minderung der Schlafqualität beobachtet, sowie Konzentrationsschwierigkeiten u.ä.
Ein scharfer Kritiker der modernen Mediennutzung ist der Hirnforscher Manfred Spitzer, der seinen Kindern lange Zeit sogar den Fernseher vorenthielt. Seine Sorgen um die Internetnutzung ist bedeutend größer, die er in "digitaler Demenz" erläutert (vgl. Spitzer, M. 2014). Andererseits öffnet das Internet vielen eher verhaltenen Kommunikationspartnern die Pforte zur häufigeren und vor allem spontaneren Kommunikation. Wie entspannt kann sich der eine Partner zu irgend einer Tages – oder Nachtzeit beim anderen „melden“, indem er einfach eine E-Mail sendet? Gleiches gilt übrigens auch für die SMS und die neuere Version WhatsApp - Handyübertragungen, eine Kurznachricht absenden - wann immer und wo immer man möchte: Der Partner empfängt sie dann, wann er will, oder automatisch, wenn er das Gerät (Handy/PC) anstellt.
So wird die klassische SMS/WhatsApp immer häufiger genutzt, die die Momentaufnahmen noch viel deutlicher (mit-)teilen läßt: Fotos vom Platz oder Konzert, an dem man sich gerade befindet wird dem Kommunikationspartner schnell kostenlos per Whatsapp geschickt, der nun weiß, wo der andere sich vergnügt und sogar Teile der Stimmung mit besonders ausdrucksstarken Bildern können in Ansätzen erkannt werden. Die gewisse Unverbindlichkeit dieser Kommunikationsweise läßt oftmals Menschen eher kommunizieren als bei der direkten Kommunikation.
Vor Anrufen scheuen sich viele, da sie nicht wissen, in welcher Stimmung sie den Partner erreichen, außerdem herrscht zwischen den Telefonierenden eine höhere Anspannung, da ja auf jedes gesprochene Wort im der Stimmung gemäßen Tonfall sofort eine emotionale Reaktion folgt, die nicht immer angebracht ist, da sie oft zu spontan und unüberlegt erfolgt. Zu den positiven Effekten der Internetnutzung zählen sicherlich die Reduzierung der Ladenbesuche, die bis zum tatsächlichen Kauf aufgeschoben werden können, zumindest zum Zweck der Produktinformationen und dem Vergleich der Preise, von der enormen Zeitersparnis einmal ganz abgesehen. Sonderangebote werden dann wohl eher direkt vor Ort geprüft. Zusammenfassung zur Internetstudie: Erbring kritisiert am Internet die totale Unübersichtlichkeit, wie sie im Prolog unserer Zeitschrift von Prof. Hans-Ulrich Ahlborn angesprochen wurde und er lobt die unbegrenzten Informationsressourcen. Die Internetnutzung in Deutschland ist so hoch wie nie zuvor:
14-39 J.: ca. 96%, die regelmäßig (mehrmals/Woche das Internet nutzen)
40-49 J.: ca. 90%
50-59 J.: ca. 80%
60-69 J.: ca. 64%
ab 70 nutzen rd. 29% der Deutschen das Internet. Die Internetnutzung nimmt also mit dem Alter ab. (vgl. Statista 2015)
Die hauptsächliche Nutzung des Internets ist in den USA wie in Deutschland erfolgt durch E-Mail-Austausch und Recherche. Die Jüngeren nutzen es zusätzlich vermehrt mit Spielen und Musik-/Videoaktionen. Das Internet hat große Auswirkungen auf das Zeitbudget der Nutzer: 41% geben an, weniger fern zu sehen, 33 % schlafen sogar weniger (!), 20 % lesen weniger Zeitung, 18% verbringen weniger Zeit mit der Familie und 12% schränken die Zeit für den Freundeskreis ein. (FORSA: Juliusstr.14, 12051 BERLIN)
Das Lernen durch diese neuen Medien (Medienpädagogik) läßt sich als System und Interaktionszusammenhang um die Förderung von Medienkompetenz begreifen, wobei auch alle elementaren Probleme sozialer Systeme wie Integration, Umweltanpassung, Zieldurchsetzung und Strukturerhaltung zu lösen sind. Wie immer fördern und stimulieren neue Medien auch die alten, da der moderne Mediennutzer schnell in die Reizüberflutung des Neuen gelangt und sich sehr gerne wieder dem alten Medium als Entspannung und Schaffung einer gewissen Ordnung bedient, darum wird der Griff zum Buch auf dem Balkon, einer sonnigen Parkbank oder im Zug immer wieder von neuem eine Freude sein, da Bildung und Wissen zum reinen Genuß führen und die alten Medien aus der Oberflächlichkeit und Unübersichtlichkeit führen.
Literatur:
-Saxer, Ulrich: Medienverhalten und Wissensstand- zur Hypothese der wachsenden Wissenskluft, München 1978 - in Verbindung mit: Saxer (Hg.): Gleichheit oder Ungleichheit durch Massenmedien? Schriftreihe der Deutschen Gesellschaft für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, 10, München 1985 -FU-N (FU-Nachrichten) Erbring, Lutz: Forsa-Studie zur Internet-Nutzung
- Spitzer, M. (2014). Über vermeintliche neue Erkenntnisse zu den Risiken und Nebenwirkungen digitaler Informationstechnik. Eine Erwiderung zur Arbeit von Appel und Schreiner (2014). Psychol Rundschau
R. R.
Ralph Relbert (Montag, 23 Mai 2016 06:38)
Der Klassiker der Medienforschung die "Wissenkluftstheorie" ( s. Saxer und Bonfadelli) wurde hier in die Moderne geistreich übertragen. Warum da andere Medienforscher nicht darauf gekommen sind, ist ein Rätsel. Es ist an der Zeit, die alten Medientheorien auf das rasante Fortschreiten der neuen Medien ( Derzeit wären die Kompaktmedien "Smartphone" oder "Tablet" angesagt) zu übertragen. Dann müssten nicht ständig neue Namen für etwas klassisches wie Ulrich Saxers "Hypothese der wachsenden Wissenschkluft" / "Wissensklufttheorie" unsinnigerweise erfunden worden. Ramin Rowghani ist dies eindrucksvoll gelungen.
Medienbeobachter (Samstag, 21 November 2015 02:25)
Wer kritisiert hier Manfred Spitzer (immerhin Prof. Dr. Dr.)? Mein Kommentar-Vorgänger nimmt wahrscheinlich zu sehr Bezug auf die Talkshow-Auftritte von Prof. Spitzer. Das darf man nicht tun. In Talkshows geben sich Wissenschaftler oft anders und platt. Das Auftreten dort beherrschen sie meistens nicht, wenn man ihre Texte aber liest, dann sind sie besser. Und manche alten wissenschaftlichen Ausführungen von Manfred Spitzer sind einfach spitze. Auch wenn Sie, Herr Prof., den Kindern das Fernsehen und Videospiele untersagen, vielleicht hat es sogar seinen Sinn!
S. Meyer (Montag, 16 November 2015 21:23)
Endlich mal was qualifiziertes neues in diesem Segment, verknüpft mit einer alten Theorie zu diesem vielschichtigen Thema. Das hat selten jemand so dezidiert und trotzdem nicht ausschweifend gemacht, selbst die MEDIAPERSPEKTIVEN, die ja diesem Format hier ähneln, kriegen das nicht so hin.
Übrigens von den Theorien des "selbsternannten" Hirnforscher Prof. Dr. Manfred Spitzer, der zwar sehr umfassend gebildet ist, aber meines Erachtens zu einseitig GEGEN die neuen MEDIEN argumentiert (Wie kann man den Kindern das TV vorenthalten??? ), halte ich wenig.
Prof. Spitzer sollte vielmehr auf seine psychiatrischen und philosophischen Studien zurückgreifen, als im Strom der ( begriff ist ungeschützt !) Hirnforscher mit zu schwimmen. Ein Mann mit dem Niveau sonst, hat das nicht nötig. Wir sind gespannt auf Neues. S. Meyer