Pisa und wie weiter? Eine aktuelle Bildungsanalyse von 2017

Von Sarah Bergmann

PISA und wie weiter? Eine Bildungsanalyse

 

Die Ergebnisse der internationalen Schülervergleichsstudie PISA schlugen erstmals im Dezember 2001 ein wie eine Bombe. Eine große Anzahl deutscher Schüler weist ganz erhebliche Defizite in Kernkompetenzen wie Lesen, Schreiben und Rechnen auf, zudem befördert unser Schulsystem die soziale Ungerechtigkeit.

 

Soweit der Befund, der einige Illusionen bezüglich des Bildungsstands und somit der Zukunftsfähigkeit unserer Jugend in Schutt und Asche legte. Dies war jedoch äußerst notwendig, denn nur auf diese Weise konnte der Weg frei werden für neue bildungspolitische Denkansätze. Und an Ideen für die dringend erforderliche Reform des Bildungswesens mangelt es im Land der Dichter und Denker tatsächlich nicht, wie das 2002 im Hoffmann und Campe Verlag erschienene Taschenbuch “Nach dem Pisa-Schock – Plädoyers für eine Bildungsreform” zeigt. In diesem Buch stellen 42 Größen aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft ihre Konzepte vor, wie Deutschland sein Bildungssystem verbessern und damit international wettbewerbsfähig bleiben und seine Zukunft sichern kann. Was ist von dieser Analyse aktuell im Jahr 2017 geblieben?

 

Für die damalige Bundesfamilienministerin Christine Bergmann sind Kindertagesstätten und Ganztagsschulen das Gebot der Stunde. Sie schreibt: “Die Familienstruktur hat sich verändert. Die Erwerbstätigkeit beider Partner wird immer mehr zur Regel. Bisher gingen die Folgen dieser Entwicklung vor allem zu Lasten der Frauen, die den Spagat zwischen Erwerbstätigkeit und Familie oft mit dem Preis sehr hoher Belastungen oder dem Verzicht auf eine eigene Karriere bezahlen. Aber auch Kinder können unter einer Situation leiden, die nicht für alle Beteiligten zufriedenstellend geregelt ist.” (S. 125)

Daß es aus den genannten Gründen Ganztagsschulen geben muß, ist einsichtig, aber sollten durchweg alle Schulen in Ganztagsschulen umgewandelt werden? Aus der Tatsache, daß die Schüler des “PISA-Siegerlands” Finnland ganztägig zur Schule gehen, wurde genau dies oftmals gefolgert. Wie voreilig solche aus bilateralen Ländervergleichen gezogenen Schlüsse jedoch sind, darauf macht Ludger Wößmann (Forscher am Institut für Weltwirtschaft in Kiel) aufmerksam: “Was Ganztagsschulen anbelangt, so hat etwa Luxemburg zumindest an drei Tagen pro Woche Nachmittagsunterrricht – und hat in alle drei PISA-Bereichen nur den drittletzten Rang belegt.” (S.98)

 

 

Der Berliner Autor Florian Langenscheidt ( ehemaliger Repräsentant des in Berlin gegründeten Langenscheidt-Verlages) hält in “Nach dem Pisa-Schock” ein glühendes Plädoyer für das Lesen: “Es ist Fenster zur Welt und zu uns selbst. [...] Es erzieht zur Mündigkeit des Urteils und eigenständiger Reflexion. Es eröffnet komplexe Wissensräume und Bildung im humanistischen Sinne, schafft ganzheitliches Verstehen und Wissen um Zusammenhänge und Zwischentöne. Es inspiriert zu Kreativität, da es zwischen und hinter den Pinselstrichen der Sätze Leerräume lässt, die es mit Fantasie auszumalen gilt. Es lässt uns mitlieben und -leiden, überrennt die Grenzen unserer Beschränktheit und lässt unsere Seelen reisen. Es ist das Abenteuer im Kopf, das wir umso dringender brauchen, je formierter und zugleich kontingenter unsere Existenz in einer hochzivilisierten Welt geworden ist.” (S. 297)

Entgegen einer weitverbreiteten Meinung kann Florian Langenscheidt in den modernen Medien keine Gefahr für die Lesekultur entdecken: “Und welches ist die Ware, die sich nach bisherigen Erfahrungen am besten im E-Commerce des Netzes der Netze vertreiben lässt? Gerade das angeblich so veraltete Medium Buch!” (S. 300)

Dennoch gibt es unbestritten eine hohe Anzahl Jugendlicher, die viel zu häufig vor dem Fernseher oder dem Computer hängen; die Erlernung des richtigen Umgangs mit den neuen Medien (die sog. Medienkompetenz) muß daher nach Meinung des damaligen Vorsitzenden der SPD im niedersächsischen Landtag und heutigen Außenministers, Sigmar Gabriel, in der Schule der Zukunft eine zentrale Stelle einnehmen.

 

Für Jürgen Rüttgers (stellvertretender Bundesvorsitzender der CDU) ist ganz wichtig, daß die Schulen künftig neben ihrem Bildungsauftrag verstärkt auch einen Erziehungsauftrag

wahrnehmen.

 

Die cinditio humana

 

Er vertritt folgende Position: Der Institution Schule soll die Aufgabe zukommen, “durch gezielte und systematische Vermittlung von Werten, Einstellungen und Haltungen an der Bildung oder Formung von mündigen Persönlichkeiten mitzuwirken. Sie müssen fähig werden, ihr Leben selbst zu gestalten [...] und Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Angesichts einer im Wesentlichen gleichbleibenden conditio humana spricht alles dafür, dass zu den dafür nötigen Einstellungen und Haltungen auch in Zukunft so “altertümliche” gehören wie Selbstbeherrschung und realistische Selbsteinschätzung, Fleiß, Disziplin, Geduld, Belastbarkeit und auch die Fähigkeit, mit Enttäuschungen, Versagungen und Frustrationen umzugehen.” (S. 116)

Durch welche Methoden allerdings den Schülern beispielsweise Disziplin beigebracht werden soll, darüber schweigt Herr Rüttgers sich aus.

 

Was von vielen Autoren, die in “Nach dem Pisa-Schock” zu Wort kommen, gefordert wird, ist eine stärkere Vernetzung der Schulen mit der Wirtschaft, sowie eine Orientierung an derselben, d. h. die Übernahme marktwirtschaftlicher Prinzipien im Bildungswesen. Der damalige Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt trägt das Anliegen vor, daß alle Schüler durch Betriebspraktika frühzeitig die Arbeitswelt kennenlernen. Außerdem hält er es für erforderlich, daß “Wirtschaft” als eigenständiges Unterrichtsfach eingeführt wird. Der internationale Vergleich hat gezeigt, daß Wettbewerb unter den Schulen zu einem deutlichen Anstieg des Bildungsstandards verhilft. Wettbewerb kann natürlich nur funktionieren, wenn den Schulen ein hohes Maß an Autonomie zugebilligt wird, so daß sie sich in Qualität und Profil voneinander unterscheiden können.

 

Peter Struck, Professor für Erziehungswissenschaften, fordert daher, daß jede Schule u. a. über die Personalhoheit verfügen und sich einen eigenen Schwerpunkt setzen muß. Daß die schulische Autonomie jedoch nicht zu weit führen darf, darauf macht Ludger Wößmann unter Berufung auf die aus internationalen Vergleichen gewonnenen Erkenntnisse aufmerksam: “Generell scheinen von einer erhöhten Schulautonomie positive Effekte auszugehen – aber nur dann, wenn Schulen in solchen Entscheidungsfeldern wie der Beschaffung von Lehrmitteln und der Auswahl und Vergütung ihrer Lehrer frei entscheiden können. In Entscheidungsfeldern wie der Festlegung des Curriculums, der Genehmigung zulässiger Lehrbücher und der Festsetzung des Schulbudgets scheint eine externe Kontrolle für den Leistungsstand der Schüler besser zu sein als Schulautonomie.” (S. 100f.)

 

Wie aktuell an den Massendemonstrationen, Streiks und mannigfaltigen Protestaktionen der Berliner Studenten nur allzu deutlich wird, liegt auch im Bereich der Hochschulbildung einiges im argen. Die Proteste der Studenten richten sich in erster Linie gegen die (auch aus meiner Sicht unverantwortlichen) Sparpläne des Berliner Senats, diese sind jedoch nicht das einzige Problem; mit den deutschen Hochschulen steht es insgesamt nicht zum besten, was man auch daran erkennen kann, daß immer mehr deutsche Spitzenwissenschaftler ins Ausland abwandern, trotz aller Exzellenzgewinne ( Freie Universitäz und Humboldt-Universität).

 

Der Unternehmensberater Roland Berger schreibt dazu in “Nach dem PisaSchock”: “Eine Zahl kann dies verdeutlichen: Vier gebürtige Deutsche sind in den letzten Jahren mit dem Nobelpreis geehrt worden – der Mediziner Günter Blobel (1999) sowie die Physiker Horst Ludwig Störmer (1998), Herbert Kroemer (2000) und Wolfgang Ketterle (2001). Aber: Alle vier leben ud arbeiten in den USA und haben die Forschungen, für die sie ausgezeichnet wurden, dort erbracht.” (S. 221) In “Nach dem Pisa-Schock” widmen sich daher zwölf Artikel ausschließlich dem Thema Hochschulreform. Die Forderungen, die in ihnen vornehmlich zum Ausdruck gebracht werden, entsprechen im wesentlichen dem, was wir schon in Bezug auf die Schulen kennengelernt haben: eine engere Anbindung der Hochschulen an die Wirtschaft, mehr Autonomie einhergehend mit einer stärkeren Profilbildung und last but not least einen intensivierten Wettbewerb.

 

“Nach dem Pisa-Schock” liefert einen wichtigen Beitrag zur Debatte um die Bildungsreform.

Man erfährt von einflußreichen Menschen aus Politik und Wirtschaft, welche Vorstellungen sie haben, was für Ideen sie mitbringen und aus welchen Gründen sie dieses befürworten und jenes ablehnen. Was man in den kurzen Beiträgen allerdings nicht erfährt, ist, wie sich die Autoren die Realisation der von ihnen vorgeschlagenen Projekte, an denen zum Teil ein ganzer Rattenschwanz von strukturellen Veränderungen und Kosten dranhängt, eigentlich vorstellen. Und das ist schade, denn es ist anzunehmen, daß auch und gerade für das komplexe Bildungswesen gilt: Der Teufel steckt im Detail.

 

Bernd Fahrholz, Sigmar Gabriel, Peter Müller (Hrsg.): Nach dem Pisa-Schock – Plädoyers für eine Bildungsreform Hoffmann und Campe Verlag GmbH, Hamburg 2002/ Rezension und aktuelle Stellungnahme von 2017

 

 

(E.A.M. Berlin 06-2017) S.B.

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