Von Gisela Anscheit-Ruge
Vom Verliebtsein in die Abhängigkeit
Die Sucht nach einer anderen Person
Die physikalische Welt ist ein System unerschöpflicher Energie. Die Welt zwischenmenschlicher Beziehungen ist ein gewaltiger Wettkampf um Energie und damit um Macht. Dieser Kampf ist die Ursache jedes menschlichen Konflikts auf allen Ebenen, vom geringfügigen Familienstreit zum Gewerkschaftskonflikt bis hin zum Krieg der Nationen. Zugrunde liegt immer ein tiefes Gefühl der Unsicherheit und der Schwäche, das durch die Aneignung fremder Energie aufgehoben werden soll. Auffällig in unserer Zeit sind die vielen Konflikte in Liebesbeziehungen. Die Menschen sind aufgewacht, kaum jemand möchte den Unterworfenen spielen. In der Vergangenheit mag einer der Partner willens gewesen sein, sich unterzuordnen - gewöhnlich die Frau, manchmal auch der Mann. Die Gleichberechtigung bringt jedoch das Problem der Machtkämpfe mit sich, die früher oder später jede Beziehung unerträglich machen und zum Ende führen. Dies muß nicht sein, wenn man etwas über den zwischenmenschlichen Energiefluß weiß und danach handelt.
Am Anfang einer Liebe versorgen sich beide Partner unbewußt gegenseitig mit Energie, geraten als Folge davon in Hochstimmung und fühlen sich beflügelt. Die Körper scheinen zu pulsieren, wenn man in die Gegenwart des geliebten Menschen kommt und wenn man sich berührt, scheint man über eine unglaubliche Menge von Energie zu verfügen. Dieses unwahrscheinliche intensive Hochgefühl nennen wir „Verliebtsein". Doch dieser Zustand ist leider kein Dauerzustand, er geht bald in eine Erwartungshaltung über. Der euphorische Energiefluß läßt nach, es wird nun erwartet, daß der andere den Verlust ausgleicht. Im Laufe der Beziehung werden die Betroffenen immer abhängiger von der Energie des Partners, aber unglücklicherweise ist sie dort zu diesem Zeitpunkt meistens nicht mehr im Überfluß vorhanden und so wird an der eigenen Energie gespart. Sie verfallen in ihre alten Verhaltensmuster zurück und versuchen einander zu kontrollieren, um die Energie des anderen in die eigene Richtung zu lenken. An diesem Punkt verkommt die Beziehung zu dem ja bestens bekannten Machtkampf. Die Sucht nach der Energie des anderen Menschen kann den eigenen Entwicklungsprozeß stoppen. Glück und Euphorie enden irgendwann in Konflikte und Auseinandersetzungen.
Unsere Empfänglichkeit für derartige Sucht- oder Abhängigkeitsverhalten hat einen psychologischen Grund: Das Problem beginnt sehr früh in der Familie. Wegen der Energiekämpfe dort sind viele von uns nicht in der Lage gewesen, einen sehr wichtigen psychologischen Prozeß zum Abschluß zu bringen. Es war uns nicht möglich, unser anderes Geschlecht zu integrieren. Archetypischerweise besteht ein Kind aus männlicher und weiblicher Energie. Idealerweise wird es von der Energie beider Elternteile gleichermaßen versorgt, bis es alt genug ist, seine Energie direkt aus der universellen Quelle zu beziehen, die bereits eine Einheit aus dem männlichen und weiblichen Prinzip bildet.
Gewöhnlich identifiziert sich ein Kind leichter mit der Energie des eigenen Geschlechtes, da diese für das Kind leichter zu integrieren ist. Ein junges Mädchen wird auf die femininen Qualitäten seiner Mutter ansprechen und sich instinktiv zu seinem Vater hingezogen fühlen, um so eine Entsprechung seines eigenen Geschlechtes zu finden und dadurch zu einem einheitlichen Wesen zu reifen. Dieser Prozeß verschafft dem kleinen Mädchen ein Gefühl der Vollständigkeit. Umgekehrtes gilt für ein Kind maskulinen Geschlechts. In einer nicht idealen Familiensituation sorgt dieses Verhalten für einen Machtkampf zwischen dem jeweiligen EIternteil und dem Kind.
Hier beginnt die Ausbildung von Verhaltensmustern, wo das Kind lernt sich in Szene zu setzen, um durch Manipulation an die gewünschte Aufmerksamkeit und damit Energie zu kommen.
Vier Hauptmöglichkeiten der Energiemanipulation können wir beobachten, die im Zusammenhang miteinander stehen. Manche Menschen benutzen mehr als einen Weg, um Energie auf sich zu lenken, doch die meisten von uns haben ein vorherrschendes Verhaltensmuster, das sich in der frühen Kindheit etabliert hat und häufig wiederholt wird.
Der Einschüchterer:
Diese Personen binden Aufmerksamkeit mit Hilfe von Lautstärke, physischer Kraft, Drohungen sowie unvorhersehbaren Temperamentsausbrüchen an sich. Einschüchterer dominieren, indem sie ihr Gegenüber mit der ständigen Drohung eines verletzenden Kommentars, ihres Zorns und, in extremen Fällen, Wutausbrüchen in Schach halten. Der Einschüchterer steht immer im Mittelpunkt. In seiner Gegenwart fühlt man sich verängstigt oder unruhig. Das ergänzende Verhaltensmuster zum Einschüchterer ist das Arme Ich, eine energetisch extrem passive Dynamik. Es bemüht sich den bedrohlich erscheinenden Energiefluß durch das Einnehmen einer sich krümmenden, hilflosen Haltung zu stoppen: „Schau mal was du mir angetan hast. Tu mir nicht weh, ich bin zu schwach." „Das Arme Ich“ versucht dem Einschüchterer Schuld einzuflößen, damit er seine Angriffe einstellt und sich der Energiefluß für das Arme Ich wieder einstellt.
Der Vernehmungsbeamte:
Obwohl körperlich weniger bedrohlich, sind diese Personen doch in der Lage, Willen und Geist durch ständiges Hinterfragen aller Aktivitäten und Motivationen zu zerbrechen. Als feindseliger Kritiker sucht der Vernehmungsbeamte andauernd nach einer Gelegenheit, zu beweisen, daß andere unrecht haben. Je mehr diese Menschen an unseren Fehlern und Unzulänglichkeiten herumnörgeln, desto mehr Beachtung kommt ihnen zu, bis Dein Gegenüber schließlich auf jede Deiner Bewegungen reagiert. Während Du damit beschäftigt bist, sich dem Vernehmungsbeamten gegenüber zu beweisen oder ihm Rede und Antwort zu stehen, erhält er Deine Energie. Vermutlich wird alles was du sagst irgendwann gegen Dich verwandt und Du wirst den Eindruck nicht los, unter permanenter Bewachung zu stehen.
Vernehmungsbeamte als Eltern sorgen für unnahbare Kinder, manchmal auch für Arme Ichs. Beide trachten danach, dem Bohren des Vernehmungsbeamten zu entkommen. Unnahbare wollen sich dem Zwang, antworten zu müssen und der ständig stichelnden Kritik entziehen (und damit den Verlust ihrer Energie)
Der Unnahbare:
Diese Personen sind in ihrer eigenen inneren Welt der ungelösten Konflikte, Ängste und Selbstzweifel gefangen. Unbewußt sind sie der Ansicht, daß, wenn sie mysteriös oder über den Dingen stehend erscheinen, andere sie aus der Position erlösen werden. Oftmals einsam, sind sie auf Distanz bedacht, da sie fürchten, einen fremden Willen aufgedrängt zu bekommen oder in ihren Entscheidungen hinterfragt zu werden. Sie sind der Ansicht, alles selbst erledigen zu müssen, und bitten nicht um Hilfe. Sie beanspruchen viel „Freiraum" und vermeiden es oft, bindende Zugeständnisse zu machen. Als Kind wurde ihnen oft der Wunsch nach Unabhängigkeit und die Würdigung ihrer eigenen Identität verweigert.
Sie neigen dazu, sich auf der Seite des Armen Ichs anzusiedeln und realisieren oftmals nicht, daß ihre eigene Unnahbarkeit der Grund für die Unerfülltheit ihrer Wünsche (d. h. Geld, Liebe, Selbstwertgefühl) und für ihre Gefühle der Stagnation und Verwirrung ist. Ihr Hauptproblem sehen sie häufig in der Abwesenheit von Dingen (Geld, Freunde, soziale Kontakte, Bildung).
Das Spektrum ihres Verhaltens reicht von desinteressiert, unzugänglich bis hin zu nicht hilfsbereit, herablassend, abweisend, widerspenstig und heimtückisch.
Das Arme Ich oder Opfer:
Diese Personen meinen, unter Kräftemangel zu leiden, der es ihnen unmöglich macht, die Herausforderungen der Welt aktiv anzugehen. Deshalb versuchen sie durch das Erregen von Mitleid, Energie in ihre Richtung zu lenken. Häufig schweigend, ähneln sie dem Unnahbaren, doch stellt das Arme Ich für Gewöhnlich sicher, daß sein Schweigen nicht sang- und klanglos untergeht. Als eingeschworener Pessimist zieht das Arme Ich mit besorgtem Gesichtsausdruck, lautem Seufzen, Zittern, Weinen, In-die-Ferne-Gestarre, zögerlichen Antworten und Wiedererzählen wehmütig erinnerter Träume und Lebenskrisen die Aufmerksamkeit anderer auf sich. Arme Ichs lieben es, anderen den Vortritt zu lassen und sich den Wünschen anderer zu fügen. Anfänglich bestechen die Armen Ichs durch Verletzlichkeit und Hilfsbedürftigkeit. Sie sind allerdings nicht an wirklichen Lösungen ihrer Probleme interessiert, denn dadurch würden sie die Quelle ihrer Energie verlieren. Sie neigen dazu sich übermäßig entgegenkommend zu verhalten, was schließlich dazu führt, daß sie sich ausgenutzt fühlen und wieder ihre Arme-IchMethode zur Energiegewinnung anwenden können. Leisten sie Hilfe so verfügen sie nur selten über die Fähigkeit, Grenzen setzen zu können, sie sind defensiv und entschuldigend und versuchen die Probleme anderer zu lösen. Sie lassen sich z.B. durch ihre Attraktivität oder das Gewähren sexueller Gefälligkeiten zu Objekten machen, beschweren sich anschließend jedoch darüber, daß man sie ausgenutzt hätte.
Die Basis der Verhaltensmuster ist Angst und wenn wir als Kinder Energie benötigten, um uns sicher zu fühlen, benutzten wir eines dieser Muster, von dem wir wußten, daß es funktioniert. Da wir uns aber von unserer Anlage her kontinuierlich weiterentwickeln wollen, stehen wir im Erwachsenenalter mit diesen Verhaltensweisen vor einer kritischen Situation.
Mit dem Wissen darüber, daß eine uns allen zugängliche universelle Energiequelle existiert, brauchen wir uns nun nicht länger mit unseren alten Überlebensmustem zu identifizieren. Werden diese Kontrollmuster ausreichend erhellt, also bewußt gemacht, so können sie sogar in positive Attribute umgewandelt werden. Doch müssen wir aufpassen, denn wenn uns jemand den direkten Zugang zu Energie anbietet, schneiden wir uns von der wahren Quelle ab, und aus ist es mit der Weiterentwicklung. Wir fallen zurück. Dies muß man sich folgendermaßen vorstellen: Wir laufen wie Halbkreise herum, bevor wir es nicht gelernt haben, dieser Situation aus dem Weg zu gehen. Wir sind ausgesprochen angezogen von Personen des anderen Geschlechts, die ebenfalls Halbkreise darstellen und sich mit uns Menschen und Seele vereinen wollen, um so endlich einen vollen Kreis zu bilden - und uns eine enorme Zufuhr an Euphorie und Energie zu verschaffen, die sich durchaus so anfühlt, als ständen wir in direkter Verbindung mit den Kräften des Universums. In Wirklichkeit haben wir uns lediglich mit jemandem zusammengetan, der wie wir versucht, seine andere Hälfte in der Außenwelt zu finden. Hierbei handelt es sich um eine symbiotische Beziehung oder Co-Abhängigkeit und die vorprogrammierten Konflikte lassen nicht lange auf sich warten.
Das Problem mit dem nun entstandenen vollen Kreis, der vermeintlich kompletten Person, besteht darin, daß es zwei unterschiedliche Menschen brauchte, einer liefert die weibliche Energie, der andere die männliche. Diese eine Person verfügt konsequenterweise über zwei Köpfe bzw. zwei Egos. Beide wollen die eine Person, die sie ja erschaffen haben, dirigieren. Genau wie in der Kindheit wollen beide das Kommando über den Anderen haben, als handele es sich bei ihm um ihre eigene Person. Die Illusion, ein Ganzes zu sein, bricht bei den folgenden Machtkämpfen gewöhnlich völlig zusammen. Am Ende wird jeder den anderen als höchst gewöhnlichen Menschen betrachten und sogar versuchen, ihn zu schwächen, damit das angeblich vollständige Selbst in die gewünschte Richtung gelenkt werden kann. Dies soll aber nicht heißen, daß wir keine romantischen Beziehungen mehr haben können. Die können wir auch weiterhin haben, doch müssen wir zunächst lernen, den Kreis allein zu vollenden. Wir müssen unsere Verbindung zur universellen Energie stabilisieren. Dazu braucht es Zeit, doch wenn die Verbindung einmal steht, wird dieses Problem nie wieder auftauchen, und wir sind reif für eine „höhere" Beziehung. Verlieben wir uns danach in eine andere, ebenfalls vollständige Person, so schaffen wir eine Super-Person, ohne dadurch vom Pfad unserer individuellen Entwicklung abzukommen. Indem wir der Liebe auf den ersten Blick nicht immer gleich nachgeben, sondern lernen, mit dem anderen Geschlecht auch platonische Beziehungen zu führen, können wir Abhängigkeitsbeziehungen aus dem Weg gehen. Wir müssen verstehen, wer unsere Freunde im Inneren wirklich sind, dadurch brechen wir die Projektion, die auf das andere Geschlecht gerichtet ist, und es wird wieder möglich, uns mit dem Universum zu verbinden.
Dies ist kein einfaches Unterfangen, besonders dann nicht, wenn jemand aus einer bereits bestehenden Beziehung zweier Abhängiger ausbrechen muß. Abhängigkeit unter Menschen ist keine Seltenheit. Viele sind abhängig und müssen versuchen aus dieser Abhängigkeit herauszuwachsen.
Die Idee besteht darin, Hochgefühle und Euphorie, wie sie nur zu Beginn einer Abhängigkeitsbeziehung auftreten, auch allein empfinden zu können. Wir müssen unseren Partner gewissermaßen in unserem Inneren entwickeln. Danach ist man erst bereit für jene einmalige, romantisch Beziehung, die uns auf dem Leib geschneidert ist. Durch eine Bewußtseinsveränderung wird es schließlich gelingen, uns dieser Erfahrung zu öffnen.
G.A.-R.
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Kerstin Berand (Dienstag, 16 Mai 2017 04:05)
Eine bessere Kategorisierung als die Von Gisela Anscheit-Ruge, die ich einmal bei einem Vortrag in de Urania Berlin-Schöneberg hören durfte, finde ich eigentlich nirgends. Wann liest man wieder was von ihr?